Mit ihrem gross angelegten Forschungsprojekt «Opportunities and Limitations of Describing in Nursing Homes» haben zwei Wissenschaftler:innen die Situation in Westschweizer Alters- und Pflegeheimen zur Medikation untersucht. Mit den erhobenen Daten konnten sie gezielte Interventionen definieren und im Blick auf interprofessionelle Arbeit zwischen Pflegenden, Ärzt:innen und Apothekern ein Empfehlungsprogramm ausarbeiten. Dazu gehört die pharmakologische Begleitung durch Apotheker:innen, die es bereits in einigen Westschweizer Heimen gibt.
Die Expert:innen
- Dr. Anne Niquille und Dr. Damien Cateau, Universität Lausanne
- Prof. Dr. med Omar Kherad, Universität Genf
Hindernisse in der Praxis
Pflegende berichteten jedoch von einigen Hindernissen. Die Komplexität des Gesundheitszustandes und kognitive Störungen erschweren den Prozess der Reduktion der Medikamente. Interprofessionelle Arbeit braucht Zeit und verlangt nach effizienter Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren. Einige Bewohner:innen wollten aus Desinteresse oder aus mangelndem Wissen nicht bei der Wahl ihrer Medikationsvergabe mitwirken. Somit ist es schwierig, ihre Meinung mit einzubeziehen und sie aktiv ins Geschehen einzubinden.
Zu viele Risiko-Medikamente
Das Forschungsprojekt der Lausanner Forscher hält fest, dass die Menschen in Heimen im Durchschnitt 7,3 Medikamente pro Tag erhielten. Davon waren rund ein Drittel der Medikamente nicht angemessen. Die gegenwärtige Verschreibungspraxis der Äerzt:innen kann somit verbessert werden. Zu den Risiko-Medikamenten gehörten vor allem die Benzodiapezine, also Beruhigungs- und Schlafmittel, bei denen das Verhältnis zwischen positiver Wirkung und Risiko für ältere Menschen diskussionswürdig ist. Sie müssen sehr langsam in der Dosierung angepasst und, wenn möglich, in kleinsten Schritten abgesetzt (ausgeschlichen) werden. Die Forscher berichteten von einem gelungenen Versuchen bei Patient:innen, deren (mit ihrem Einverständnis) vereinzelt Placebos in die Wochenpackung gegeben wurden und der Placebo-Anteil sukzessive erhöht werden konnte.
Unterstützung vom Pharmakologen
Die Zusammenarbeit zwischen Arzt:innen und Apotheker:innen sei ein wichtiger Qualitätsfaktor Auch wenn auch hier der Zeitfaktor bremst: Apotheker:innen können mit ihrem Fachwissen dazu beitragen, das Verschreibungsverhalten zu verändern. Ärzt:innen müssen dafür sensibilisiert und unterstützt werden. Es ist tatsächlich schwierig, Benzodiapezine nicht mehr zu verschreiben, wenn ein Patient sie bereits jahrelang erhalten habe.
Benchmarks von grosser Bedeutung
Für eine angestrebte Verhaltensänderung der Mediziner:innen brauche es unbedingt Benchmarks, sagen die Wissenschafter:innen. Erst die Vergleichbarkeit (z.B. vorher-nachher) könne zum Erfolg führen. Zuletzt hielten die Forscher auch fest, dass die Arbeit der Apotheker:innen vergütet werden müsse. In manchen Kantonen gibt es bereits Finanzierungsformen für pharmakologische Begleitung (VD, VS, JU). Die Deutschschweiz hingegen hinke da hinterher.
Alle wollen Veränderung, aber nicht bei sich selbst
Der Genfer Prof. Dr. med. Omar Kherad von der Universität Genf lobte im Webinar die Arbeit aus Lausanne. «Wir brauchen solche Plattformen, um unsere medizinische Arbeit hinterfragen zu können“, sagte er mit Blick auf «Projekt Old-NH». «Wir alle kennen die Probleme in der Verschreibungspraxis der Medikamente.» Es werde viel zu viel verschrieben. Die Hindernisse zur Verbesserung sind hoch, doch mit der Integration verschiedener Berufsgruppen könnten hier grosse Verbesserungen gelingen, sagte Kherad. Er präsentierte die Arbeit des Swiss Medical Forum von 2019 im Kanton Genf zu diesem Thema. Rund 700 Ärzte und 250.000 Patient:innen haben daran teilgenommen. Das Ergebnis komme einer «kleinen Kulturrevolution» bei den Akteuren gleich. Man habe zuerst Qualitätsindikatoren und Benchmarks definiert. In einem Audit wollte man dann erfahren, wie Einzelne agieren. Vier Faktoren, so Kherad, stünden im Zentrum einer solchen Transformation: Wissenstransfer, eine reflektierte Praxis, unterstütztes Lernen sowie die Kultur der Interprofessionalität. «Weniger ist mehr», hielt Kherad fest. Er gab sich, wie seine Lausanner Kollegen, optimistisch, dass sich die Lage in den Spitälern und ambulanten Einrichtungen zum Guten verändere, wenn die Akteure ausreichend unterstützt würden.
Tonspur Deutsch: Interdisziplinäre Qualitätszirkel
Tonspur Französisch: Webinaire fmc les cercles de qualité interprofessionnels
In den Vorträgen erwähnte Publikationen und Links
Informationen und Strategien zur Verschreiungsreduzierung von Benzodiazepinen
- Ribeiro PRS, Schlindwein AD. Benzodiazepine deprescription strategies in chronic users: a systematic review. Fam Pract. 2021 Sep 25;38(5):684-693. doi: 10.1093/fampra/cmab017. PMID: 33907803.
- Soni A, Thiyagarajan A, Reeve J. Feasibility and effectiveness of deprescribing benzodiazepines and Z-drugs: systematic review and meta-analysis. Addiction. 2023 Jan;118(1):7-16. doi: 10.1111/add.15997. Epub 2022 Jul 24. PMID: 35815384.
- Webseite welche Empfehlungen zur Reduzierung von Medikamenten beinhaltet; Reducing medications safely to meet life’s changes – https://deprescribing.org/
Publikationsliste zum NFP74 Forschungsprojekt “Opportunities and limits of deprescribing for older people in nursing homes (OLD-NH)”.
Das Schweizer Forum für Integrierte Versorgung (fmc) bedankt sich bei den Expert:innen für ihre wertvollen Beiträge.