Sorgende Gemeinschaften – wie entstehen sie, was können sie
Die Expert:innen
- Prof. Heidi Kaspar, Berner Fachhochschule BFH
- Dr. Eliane Lipp, Institut Neumünster
Ausgangslage: Betreuung zuhause ist Privatsache
Frau Kaspar stellte ihr NFP74-Projekt «Aufbau von sorgenden Gemeinschaften für die häusliche Langzeitpflege» vor. Die Ausgangslage schilderte sie so: «Die Nachfrage nach Unterstützung und Betreuung zuhause steigt, während Fachkräfte und nachhaltige Strukturen fehlen. Betreuung zuhause ist immer noch Privatsache.» Die Herausforderung: eine gute Versorgung für alle durch eine sozial nachhaltige Organisation. Sind sorgende Gemeinschaften hier die Lösung?
Metaebene: Gemeinschaften als Gesellschaftsentwurf
Die Begriffsdefinition zuerst: «Sorgende Gemeinschaften entstehen überall da, wo Menschen zusammen kommen und aufeineinander bezogen tätig werden, um die Bedingungen ihrer Mit- und Umwelt zu sehen und zu adressieren.» Es gehe um «gezielte und auf viele Schultern verteilte Verantwortung und Partizipation», ein Gemeinschaftswerk, das zu einer Kultur der Sorge führt. Sie betont: «Dies ist als Gesellschaftsentwurf, als eine Utopie gedacht». Dazu nötig seien interprofessionelle Arbeitsgemeinschaften. «Pflege und Betreuung werden ineinander verzahnt», sagt Frau Kaspar.
Projekt in drei Pilotregionen
Das Projekt wurde in drei Pilotregionen in den Kantonen Bern und Zürich realisiert. Wichtig sei gewesen, lokale Akteure möglichst von Anfang an zu beteiligen. So wurden zunächst die Lage und die Bedürfnisse der Bevölkerung und der Fachleute durch Events, durch Einzelinterviews, Workshops etc evaluiert. Als Partner wurde die Spitex gewonnen. Schnell habe sich gezeigt: Die grosse Herausforderung für viele Menschen sei das Annehmen von Hilfe. Das gelinge einfacher, wenn man sich kenne und Beziehungen pflege. In der Umsetzung (vier sorgende Gemeinschaften) fiel auf: Es wurden Gemeinschaften mit geteilten Anliegen geformt und das Zugehörigkeitgefühl, die gegenseitige Unterstützung, die Mitwirkung der Bevölkerung auf Augenhöhe sowie die interprofessionelle Zusammenarbeit wurden gestärkt. Damit wurden wichtige Grundlagen geschaffen, die die lokale Sorgefähigkeit stärken. Es ist hingegen (noch) nicht gelungen, die Betreuung von Menschen mit viel Unterstützungsbedarf zuhause direkt zu verbessern. Und die Beteiligten aus der Bevölkerung waren mehrheitlich Personen, die sich auch andernorts engagieren. Menschen, die sonst kaum Gehör finden zu beteiligen, ist nur vereinzelt gelungen.
Kein Allheilmittel – aber viel Potential
Man habe gelernt, dass sorgende Gemeinschaften nicht die alleinige Lösung sein könnten, aber sehr wohl ein Teil von ihr, so Frau Kaspar. Grundlagenarbeit brauche viel Zeit. Die hohe Integrationskraft von Gemeinschaftlichkeit führe jedoch bald zu kleinen Erfolgen. Zum Beispiel werde es dann leichter, Hilfe anzunehmen. Strukturelle Probleme wie Fachkräftemangel und die Aufgabe der Gemeinden hingegen blieben bestehen
Hohe Erwartungen der Betroffenen
Diese Erkenntnisse konnte Dr. Eliane Pfister Lipp von der Stiftung Diakoniewerk Neumünster in Zollikerberg (ZH) bestätigen. Hier sind Alterswohnungen, Spital und Pflegeheim unter einer Trägerschaft vereint. In der Langzeitpflege gebe es dieselben Trends: Das Durchschnittsalter der Mieterinnen, Multimobidität, Versorgungsbedarf stiegen, während es an Finanzierung und Fachkräften mangele. Die Nachfrage der ambulanten Langzeitpflege steige, während sie im stationären Sektor sinke. Die Erwartungen an Versorgung und Qualität sei hoch. Und eindeutig sehe man: Die Menschen wollen so lange wie möglich zuhause bleiben.
Sorgen-Kultur ist ein Puzzle
Es gab in der Stiftung Diakoniewerk Neumünster in den letzten Jahren verschiedene Projekte und Untersuchungen, etwa eine Zukunftswerkstatt, eine Einsamkeitsstudie, ein Projekt zur Siedlungsassistenz (Anlaufstelle) sowie seit 2022 das Projekt «Pflege zuhause». Fazit: Der Aufbau einer Sorge-Kultur sei ein Puzzle vieler Bereiche wie etwa Vernetzung, Interprofessionelle Arbeit, Case Management, Partizipation oder Nachbarschaftshilfe.
Frau Pfister Lipp betonte das grosse Potential von Gemeinschaften, transportierten sie doch den grundlegenden moralischen Anspruch, sich umeinander zu kümmern. Während sie klassische Strukturen in Frage stellten, stärkten sie Selbstwirksamkeit und wirkten der Einsamkeit entgegen. «Hier stecken grosses soziales Potential und grosse Hoffnungen», sagte sie.
Vision ja, Blauaugigkeit nein
Gleichzeitig gebe es eine Vielzahl von Hindernissen. Auch hier seien nur einige genannt, etwa die zunehmende gesellschaftliche «Sorgekrise», die Lücke zwischen Angebot-Nachfrage und die Tatsache, dass Gemeinschaften auch die Macht inne haben, Menschen auszuschliessen.
Beide Referentinnen betonten, dass sorgende Gemeinschaften nicht statt, sondern nur mit bestehenden Arbeitsbündnissen funktionierten. Sie seien auf viele Schultern verteilt und müssten auch den «Gender Gap» der Freiwilligenarbeit ins Zentrum rücken: Diese wichtige Ressource dürfe nicht nur vorwiegend von Frauen geleistet werden. «Wie bekommen wir Männer ins Boot und die Wirtschaft, um mehr Freiwilligeneinsätze zu ermöglichen?», fragte Frau Kaspar.
Appell an die innere Haltung zur Solidarität
Es gehe um einen weiten Zeithorizont, nicht um ein paar Jahre. Um die Aufmerksamkeit und Motivation hoch zu halten, müssten auch die kleinsten Fortschritte gefeiert werden. Nicht zuletzt sei man auf Fachleute, Politik, Behörden und Privatpersonen angewiesen, die ihre Aufgaben weiter betrachteten als bisher. Das sei, so schloss der Fachaustausch der Expertinnen, nicht weniger als der Aufbruch in eine neue Kultur: die Kultur des Kümmerns und der gegenseitigen Sorge.
Ergänzende Informationen
Das Netzwerk Caring Communities Schweiz unterstützt und stärkt niederschwellig die Entwicklung von sorgenden Gemeinschaften. Als offene Community wirkt es impulsgebend für Freiwillige, Professionelle und politische Vertreterinnen und Vertreter in allen Lebensphasen und Lebensbereichen.
Toolbox: Bausteine Sorgende Gemeinschaft
Ein inspirierendes Nachschlagewerk zur Unterstützung von Planung, Aufbau und (Weiter-)Entwicklung Sorgender Gemeinschaften.
Das Schweizer Forum für Integrierte Versorgung (fmc) bedankt sich bei den Expert:innen für ihre wertvollen Beiträge.