Interview: Pioniergeist und Patientenfokus
Der deutsche Bundesverband Managed Care organisierte im Oktober eine Studienreise nach Kalifornien für jüngere Health Professionals. Das fmc war mit Judith Dissler und Leander Muheim vertreten. Im Interview schildern sie ihre Eindrücke und Erkenntnisse. Die Quintessenz: weg von der Quantität, hin zur Qualität. Und: mehr soziale Aspekte in die Patientenversorgung einbeziehen.
Was hat Sie überrascht in Kalifornien, positiv oder negativ?
Leander Muheim: Alle Akteure im amerikanischen Gesundheitswesen berufen sich derzeit auf value-based care. Die elf besuchten Institutionen – darunter Apple, Google Verily, Genentech, Hill Physicians oder Kaiser Permanente – bekennen sich ebenso zu diesem Paradigmenwechsel wie Professoren aus Berkley und Stanford: weg von der Quantität, hin zur Qualität. In der Schweiz wird zwar viel über die hohen Kosten diskutiert. Aber nur die Managed-Care-Bewegung rund um Hausarztmodelle scheint Interesse zu haben an Kosten-Nutzen-Überlegungen und entsprechenden Anreizstrukturen. Umso eindrücklicher war das kollektive Bekenntnis in den USA zu value-based care.
Judith Dissler: Die aktuellen Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und auch im Gesundheitswesen rütteln am American Dream der unbegrenzten Möglichkeiten. Dennoch habe ich den Pioniergeist, das moderne Märchen, stark gespürt. Was vielleicht auch mit San Francisco zusammenhängt: Man erlebt dort Freud und Leid auf offener Strasse. Sieht, wie sich erfolgreiche Jungunternehmer und arme Leute, die es nicht geschafft haben, auf dem Gehsteig kreuzen. Mittelmass, Kompromisse, das sah ich selten. Die Pioniere des Silicon Valley machen etwas ganz oder gar nicht. Sie schaffen es – oder eben nicht.
Was war besonders bemerkenswert?
Judith Dissler: Wie die Pioniermentalität mit einer Dienstleistungsmentalität einhergeht. Jedes Unternehmen, das wir besuchten, betonte immer und immer wieder, dass es im Gesundheitswesen um den Patienten geht. Oder wie es bei Apple heisst: «We want to enrich people’s lives». Das kann bedeuten, dass auch soziale Aspekte wie die Wohnsituation in die Behandlung einbezogen werden. Oder dass ambulante Praxen so gebaut werden, dass man im Park auf den Termin warten kann. Oder dass Patientendossiers einfach zugänglich und gestaltet sind. Allerdings ist nicht in jedem Fall klar, welchen Nutzen der Patientenfokus hat oder ob es schlicht um Marketing geht.
Leander Muheim: Kaiser Permanente, das wohl angesehenste integrierte Versorgungssystem, hat nach wie vor – oder gerade jetzt – Vorbildcharakter. Die Organisation bietet wirklich alles aus einer Hand: Spitäler, Ambulatorien, Apotheken, Prävention, Gesundheitsversicherung. In acht Regionen der USA wird ein Umsatz von 73 Milliarden Dollars erwirtschaftet – was etwa dem Schweizer Gesundheitswesen entspricht. 6 Prozent davon werden in Forschung (re-)investiert. Die Versorgung gilt als effizient, günstig und qualitativ hochstehend.
Ärzte arbeiten gerne bei Kaiser Permanente, besonders wegen der guten Arbeitsbedingungen, der hohen ethischen Ansprüche und der allgegenwertigen Inklusivität: Ärzte werden überall in Management-Funktionen einbezogen und können die Unternehmensstrukturen mitgestalten. Ausserdem werden klinische Innovationen und Best Practice Standards in der ganzen Organisation bottom up erarbeitet und implementiert.
Wann haben Sie gedacht: Das sollten wir in der Schweiz auch so machen?
Leander Muheim: Kaiser Permanente pflegt eine intensive und unverkrampfte Feedback-Kultur unter den Ärzten. An Gruppen-Sitzungen werden Qualitäts-Ranglisten gemeinsam diskutiert. Ärzte, die besser abschneiden, beraten schwächere Kollegen. In unseren Breitengraden ist Transparenz oft unerwünscht und schafft Misstrauen. Das könnten wir anders machen.
Zudem wird Interprofessionalität in den USA viel konsequenter gelebt: Alameda Health Systems zum Beispiel betreibt Safety Net Hospitals, also Spitäler, die primär sozialmedizinisch ausgerichtet sind. Ärzte und diplomierte Pflegefachkräfte werden dort viel mehr als bei uns von administrativen und standardisierbaren Prozessen entlastet, um Ressourcen zu schonen. Wir sollten uns ebenfalls mehr damit beschäftigen, wie wir uns effektiver vernetzen und – vor allem als Ärzte – grössere Strukturen aufbauen können. Im Interesse der klinischen Qualität und der Nachhaltigkeit.
Judith Dissler: Die beschriebene Dienstleistungsmentalität und der Patientenfokus über Organisationen, Schnittstellen und Professionen hinweg: Das fehlt mir in der Schweiz. Unser Gesundheitswesen macht rund 12 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus und gehört dem Dienstleistungssektor an. Das geht ganz oft vergessen, besonders in politischen Diskussionen. Deshalb sollten wir uns immer wieder fragen: Was will der gesunde Mensch? Wo können wir den Patienten oder die Patientin unterstützen? Wie halten wir uns als Gesellschaft möglichst gesund? Wie sollen wir das Gesundheitswesen entwickeln, damit die einzelne Person genauso wie die Gemeinschaft den grösstmöglichen Nutzen haben?
Was sind die prägendsten Eindrücke, die Sie mitnehmen?
Judith Dissler: Erstens die Idee, dass Gesundheit ganzheitlich gesehen werden muss. Verschiedene Akteure betonten, dass das Versorgungssystem nur einen bescheidenen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung hat, gemäss Studien etwa 10 bis 20 Prozent. Trotzdem stecken technisch weit entwickelte Länder unglaublich viele Ressourcen in das kurative System. Kaiser Permanente zum Beispiel gibt hier Gegensteuer und versucht, mehr präventiv zu wirken und das Soziale einzubeziehen.
Dann hat mich die Lässigkeit beeindruckt, mit der Digitalisierung und Datenschutz gehandhabt werden. Ein Startup hat uns gezeigt, wie ihr Qualitätsmodell darauf baut, dass sie Diagnose- und Abrechnungsdaten miteinander «matchen» können – undenkbar in der Schweiz mit ihren Silos! Anderseits erstaunt es schon zu sehen, wie viele Verlierer es trotz Innovationen, Patientenfokus und Digitalisierung gibt: Die Spirale nach unten ist genauso offen wie die Spirale nach oben. Das dämpft die Euphorie schon ein bisschen.
Leander Muheim: In den USA gibt es viel mehr Gestaltungsraum im Gesundheitswesen als bei uns. Die einzelnen Akteure haben viel mehr zu gewinnen, aber auch mehr zu verlieren. Dadurch scheint das Kostenbewusstsein auf allen Ebenen stärker verbreitet zu sein: bei Patienten, Arbeitgebern, Krankenversichern, Dienstleistern – und auch Ärzten. Die Produktion von Immunologika bei Genentech zeigte eindrücklich, wie viel Risiko kostet und wie die hohen Preise im Falle eines Erfolgs eine Bedingung für Innovation sind. Das Silicon Valley atmet den Geist der Innovationskraft – um jeden Preis. Bei aller angebrachten Skepsis dürfen wir nicht vergessen, dass wir weltweit von diesen Innovationen profitieren.
Wir danken Judith Dissler, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Betriebs- und Regionalökonomie IBR, Hochschule Luzern – Wirtschaft
sowie Dr. med. Leander Muheim, stv. medizinische Leitung mediX Zürich für das Interview.